Unsere veRrückteste Woche in Tansania
- Ueli Litscher
- 7. Mai
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Mai

Das Leben in Tansania war intensiv, mit Momenten grosser Herausforderung. Immer wieder wurden wir mit Extremsituationen konfrontiert, in denen schnelles Handeln gefragt war – oft in einem Umfeld mit begrenztem Zugang zu medizinischer Versorgung, unklaren rechtlichen Rahmenbedingungen oder schwieriger Infrastruktur. Über die Jahre begleiteten wir in solchen Momenten Freunde und Mitarbeitende, koordinierten Hilfe, übernahmen Behandlungskosten oder suchten nach Wegen, um in akuten Notlagen Unterstützung zu leisten.
In diesem Blogeintrag erzähle ich euch von einer der intensivsten und prägendsten Wochen meines Lebens: einer Reise im Oktober 2017 in die Flüchtlingslager im abgelegenen Nordwesten Tansanias, in der ich innerhalb weniger Tage gleich mehrere solcher Ausnahmesituationen durchleben musste – jede für sich eine Herausforderung, gemeinsam jedoch ein Erlebnis, das mich bis heute begleitet.

Foto: Mtendeli Flüchtlingslager im Nordwesten Tansanias
Im Jahr 2017 begannen wir mit WomenCraft eine Zusammenarbeit mit UNHCR, dem UNO-Flüchtlingswerk, zur Gründung von zwei Flechtgruppen mit Flüchtlingsfrauen in den Lagern im Nordwesten Tansanias. Für die Lancierung unserer Flüchtlings-Produktkollektion reiste ich in die Lager, um professionelle Fotos, Videos und Geschichten der Frauen und ihrer Produkte aufzunehmen. Wir lebten damals bereits in Dar es Salaam. Für die Reise in den Nordwesten musste ich zunächst einen 1,5-stündigen Flug nach Mwanza am Viktoriasee nehmen, und von dort nochmals einen einstündigen Flug nach Bukoba. Dort holte mich Frank, unser Logistikleiter, ab, und wir fuhren mit unserem WomenCraft-Auto fünf Stunden über Dreckstrassen zum WomenCraft-Büro in Ngara. Von dort waren es nochmals rund drei Stunden Fahrt durchs Niemandsland zu den Flüchtlingslagern. Zunächst verbrachten wir jedoch einen Tag in Ngara zur Vorbereitung unserer Reise in die Lager.

Foto: Sicht vom WomenCraft-Büro ins Tal nach Burundi und Ruanda
Die medizinische Notfallevakuation von Sailas:
Während einer unserer Besprechungen klingelte mein Telefon. Es war Hassan, einer der Arbeiter vom Wasserprojekt in Mbyea (1000km südlich vom WomenCraft Büro in Ngara), wo ich im 2012 einen Zivildiensteinsatz absolvierte. Er erzählte mir, dass mein guter Freund Sailas einen Motorradunfall hatte mit Kopfverletzungen. Ich erfuhr, dass Sailas seit Tagen in einem lokalen Spital war und keinen Sinn mehr machte. Ich konnte Hassan nur schlecht verstehen, weil wir beide in sehr abgelegenen Regionen waren mit schlechtem Handyempfang. Wir wurden mehrere Male unterbrochen. Am Ende konnte ich mit einem Arzt sprechen, den ich mit der schlechten Verbindung auch kaum verstehen konnte. Anscheinend hatte sich der Zustand von Sailas dramatisch verschlechtert und das lokale Spital konnte nichts mehr für ihn tun. Es war klar, dass Sailas sofort in ein besseres Spital verlegt werden musste, dass es dafür Koordination und Geld brauchte und dass ich dies alles mit miserablem Empfang und aus 1000km Entfernung organisieren musste. Es war zu dem Zeitpunkt bereits später Nachmittag.
Meine erste Reaktion in solchen Ausnahmesituationen ist stets, unser Netzwerk aus Kontakten und Freunden zu mobilisieren. Über mehrere Telefonate erhielt ich die Nummer einer leitenden Ärztin, einer Schweizerin, im Missionsspital in Ifisi, etwa eine Stunde entfernt von Sailas Standort. Mit TigoPesa (dem tansanischen Pendant zu TWINT) konnte ich alle Zahlungen für den Transport und die Einweisung von Sailas ins Ifisi-Spital leisten. Hassan begleitete ihn auf der Fahrt.
Nach ihrer Ankunft erhielt ich erneut einen Anruf der Ärztin aus Ifisi: Sailas hatte offenbar schwere Kopfverletzungen und musste im Regionalspital in Mbeya ein Schädel-CT machen. Also organisierte ich auch diesen Transport und die Bezahlung der Untersuchung per Handygeld. Mittlerweile war es Abend, und die Zeit lief uns davon. Das CT zeigte Schwellungen im Gehirn. Nach Rücksprache mit dem Ifisi-Spital war klar, dass Sailas einzige Chance eine unmittelbare Evakuation in die internationale Klinik in Dar es Salaam war. Der Handyempfang verschlechterte sich zusehends, und es war nicht auszuschliessen, dass Sailas am Ende allein wegen der schwierigen Kommunikationslage sterben könnte.

Mit dem Auto wäre der Transport von Sailas nach Dar es Salaam viel zu weit und gefährlich gewesen - 1500 km entfernt. Ich musste also einen Flug organisieren. Zu dieser Tageszeit gab es aber keine Flüge mehr, und ich wusste auch nicht, ob die Fluggesellschaft einen Schwerverletzten wie Sailas überhaupt mitnehmen würde. Er war wieder im Ifisi-Spital, während Hassan am Flughafen war, dort jedoch nichts erreichen konnte. Also rief ich Kevin an, einen guten Freund und Piloten in Dar es Salaam, um mich mit ihm zu besprechen. Er bestätigte, dass es an diesem Abend keine offiziellen Flüge mehr gab, hatte aber eigene Kontakte, die möglicherweise helfen konnten. Über drei Ecken erhielten wir eine Information direkt vom Tower am Mbeya Flughafen: Um 20:30 Uhr würde ein Privatflugzeug nach Dar es Salaam fliegen. Das war unsere einzige Chance. Es war aber bereits 19 Uhr. Wir wussten nicht, ob die Maschine über eine Druckkabine verfügte, und wenn nicht, ob dies Sailas zustäzlich gefährden könnte... Aber wir mussten es versuchen.

Mit Hassan schafften wir es Sailas rechtzeitig an den Flughafen zu bringen. Ich weiss bis heute nicht, wem das Privatflugzeug gehörte und was am Flughafen genau passierte. Auf jeden Fall musste ich nochmal einen beträchtlichen Betrag Handygeld an eine unbekannte Nummer schicken. Minuten später erhielt ich Bestätigung, dass das Flugzeug Druckregulation hatte und dass sie Sailas mit nach Dar es Salaam nehmen würden. Sailas war also unterwegs.
Nun musste ich alles für die Ankunft von Sailas in Dar es Salaam organisieren. Hier war die Verbindung zum Glück wieder gut. Eine Ambulanz an den Flughafen zu bringen konnte ich nicht organisieren. Also mobilisierte ich unseren Taxifahrer Juma, der Sailas am Flieger abholen konnte. Meine Frau war bereits in der internationalen Klinik und organisierte alles für die Ankunft von Sailas.
Alles was danach geschah ist verschwommen in meiner Erinnerung – wahrscheinlich, weil mein Überlebensmodus abstellen konnte, und ich wusste, dass ich nichts mehr machen konnte. Sailas kam jedenfalls im Spital an und wurde sofort behandelt. Nach einem rund drei-wöchigen Spitalaufenthalt wurde er entlassen und reiste überglücklich zurück zu seiner Familie in Mbeya. Er hat bis heute gewisse Beschwerden, aber es geht ihm den Umständen entsprechend sehr gut.
Ein unglaubliches Unwetter:

Nach einer unruhigen Nacht in Ngara stand am nächsten Morgen die mehrstündige Fahrt ins Mtendeli Flüchtlingslager an. Die Strecke ging über schlechte Dreckstrassen durch hügliges Buschland. Die Region, durch die wir fahren mussten, ist eine der abgelegensten im Land und auch bekannt als Gebiet von lokalen Räuberbanden.
Die Fahrt begann mit Sonnenschein und blauem Himmel. Auf halbem Weg nahm die Bewölkung plötzlich zu. Wolken türmten sich und Wind kam auf. Innert weniger Minuten war der Himmel vollkommen bedeckt mit dunklen Wolken. Es fing an zu regnen und die Dreckstrasse wurde rutschig und kaum mehr befahrbar. Innert Sekunden war der Regen so stark, dass wir kaum mehr aus dem Fenster sahen. Der Wind war gewaltig, Frank verlor die Kontrolle über das Auto und wir rutschten in den Strassengraben der sich bereits in einen halben Fluss verwandelt hatte. Das Wasser stieg schnell. Dann begann es zu hageln. Riesige Hagelkörner schlugen auf unser Auto nieder. Wir fürchteten, die Windschutzscheibe könnte brechen. Ich überlegt mir noch unters Auto zu kriechen, aber dort war das Wasser bereits viel zu hoch. Wir konnten nichts anderes tun, als abzuwarten und zu hoffen, dass die Scheiben hielten und uns das steigende Wasser nicht mitriss. Frank probierte noch ein letztes Manöver um uns aus dem Graben zu holen, doch wir steckten fest.
Der Sturm dauerte ca. 15 Minuten, die uns aber wie eine Ewigkeit vorkamen. Als erstes hörte es auf zu Hageln und dann liessen auch der Regen und Wind allmählich nach. Das Wasser ging zurück. Als wir es wieder aus dem Auto wagen konnten, legten wir Holzbretter unter die Autoreifen und schafften es so nach ein paar Versuchen zurück auf die Strasse.

Danach fuhren wir vorsichtig weiter bis zu unserem Hotel in der Nähe der Flüchtlingslager. Am Abend sassen wir auf der Veranda und konnten kaum fassen, was wir wenige Stunden zuvor erlebt hatten. Wir gingen früh schlafen, um am nächsten Tag bereit zu sein für unseren Besuch im Lager.
Die Razzia der Immigrationsbehörde:
Mitten in der Nacht weckte mich lautes Klopfen und Stimmen auf dem Flur vor meinem Hotelzimmer. Ich hörte das Wort «Immigration» und wusste sofort, was los war. Rund um die Flüchtlingslager sind viele internationale Hilfsorganisationen tätig. Seit der Machtübernahme von Präsident Magufuli wurde vielen ausländischen Mitarbeitenden die Aufenthaltsbewilligung entzogen – so auch mir. Während Monaten hatte ich vergeblich versucht, meine Bewilligung mit Hilfe von Anwälten zu verlängern und war gezwungen, mit temporären Drei-Monats-Visa im Land zu sein. Diese berechtigten zwar zum Aufenthalt, aber es war nie klar kommuniziert worden, ob ich damit auch arbeiten durfte.
Ich hörte wie die Immigrationsbeamten eine Tür nach der anderen überprüften, Dokumente kontrollierten und in aggressivem Ton lautstark Hotelgäste belästigten. Ich überlegte, mich zu verstecken. Aber das hätte keinen Sinn ergeben und wäre schlecht ausgegangen. Also wartete ich einfach, bis sie an meine Tür klopften.
Dann klopfte es. Drei Männer forderten mich auf, meinen Pass zu zeigen, den Flur zu betreten und mich mit erhobenen Händen an die Wand zu stellen. Ich dachte, sie würden mich festnehmen, weil ich nur ein Drei-Monats-Visum hatte. Sie blätterten meinen mit Visa übersäten Pass mehrmals durch. Etwas schien Ihnen nicht zu passen, aber sie konnten mein aktuelles Visum nicht finden. Sie verloren die Geduld und anstatt mich mitzunehmen, gaben sie mir meinen Pass zurück und liefen weiter. Zurück im Zimmer sass ich bestimmt noch eine halbe Stunde an der Tür – mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es war zu diesem Zeitpunkt, als ich mir zum ersten Mal ernsthaft überlegte, ob wir Tansania verlassen mussten. Es war alles zu viel geworden und wir hatten zu viel durchgemacht.
Unser Besuch im Flüchtlingslager:

Am nächsten Morgen fuhren wir in die Flüchtlingslager. Der Besuch war mental äusserst anspruchsvoll. Die Flüchtlingskrise in Burundi war die weltweit am schlechtesten finanzierte. Die Menschen im Lager lebten in verheerenden Zuständen. Die Frauen in der neuen Flechtgruppe lebten in Zelten aus löchrigen UNHCR-Planen, einige mit 12 oder mehr Kindern. Sie schliefen am Boden und hatten aufgrund der neuen Politik im Land zu wenig Essensrationen.
Aber die Frauen gehören bis heute zu den inspirierensten Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Sie hatten so viel durchmachen müssen und waren dennoch positiv, lebensfreudig und für einander da. Mehr zur Situation in den Flüchtlingslagern haben wir in einem älteren Blogpost festgehalten.
Nach zwei Tagen im Lager und vielen inspirierenden Erlebnissen mussten wir auch schon wieder unsere Abreise planen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit meinem Abschied zu kämpfen hatte. Es schien mir so ungerecht, diese eindrücklichen Frauen und ihre Familien im Flüchtlingslager zurückzulassen. Aber immerhin konnten wir ihnen mit der Einbindung in WomenCraft dringend notwendige Einkommensmöglichkeiten eröffnen.

Die Flucht im Taxi vor der Polizei:
Nun musste ich meine Rückreise nach Dar es Salaam organisieren. Ich hatte einen Flug ab Kigoma am Tanganyikasee, rund vier Stunden Autofahrt vom Lager entfernt. Frank und meine Kollegin Kara fuhren mit dem WomenCraft-Auto zurück nach Ngara. Ich suchte ein lokales Taxi. Viele Fahrer lehnten ab wegen der Entfernung und des schlechten Strassenzustands. Schliesslich fand ich einen Fahrer, dessen Auto jedoch in miserablen Zustand war. Ich konnte die Tür kaum öffnen, die Pneus waren ausgelaugt und die Windschutzscheibe hatte einen grossen Bruch quer über die Scheibe. Aber es war meine einzige Option.
Die Fahrt führte uns durch trockenes Steppengebiet auf schlaglochübersäten Dreckstrassen und ohne Handyempfang. Aber wir schafften es ohne Zwischenfall nach Kigoma. Endlich war mein Empfang zurück und ich sah auf Google Maps, dass der Flughafen fünf Minuten entfernt war.
Plötzlich trat ein Polizist auf die Strasse und hielt uns an. Mein Fahrer wurde offensichtlich nervös – das Auto war kaum strassentauglich und es hätte mich gewundert, wenn er seinen Führerschein und seine Fahrzeugpapiere dabei gehabt hätte. Dennoch hielt der Fahrer an und begann mit dem Polizisten zu sprechen. Er stieg aus dem Auto aus und eine hitzige Diskussion began. Nach einer Weile lief der Polizist zu seinem Kollegen, um etwas abzuklären. In dem Moment sprang der Taxifahrer zurück zu mir ins Auto und drückte aufs Gaspedal. Der Polizist kam angerannt und sprang bei mir laut fluchend halbwegs durchs offene Fenster. Aber der Taxifahrer beschleunigte weiter und schleifte den Polizist mit. Einen kurzen Augenblick später fiel der Polizist aus dem fahrenden Auto auf die Strasse und wir bogen in die nächste Seitenstrasse ein.

Ich hatte genug. Ich rief laut «Stopp», sprang mit meinem Rucksack aus dem Auto, zahlte die zweite Hälfte des Fahrpreises und fand zu Fuss meinen Weg zum Flughafen. Dort gönnte ich mir als erstes ein kühles Kilimanjaro Bier zur Beruhigung und ein Chipsi Mayai (ein lokales Pommes-Omlette). Ich konnte kaum fassen, was ich in den letzten vier Tagen erlebt hatte. Physisch war ich heil davon gekommen aber emotional war ich immer noch vollkommen überfordert. Zum Glück war mein Flug pünktlich und so war ich am Abend endlich wieder Zuhause in Dar es Salaam bei meiner Frau Erica und unseren beiden Hunden und Katzen.
Diese Woche hat mich an meine Grenzen gebracht und mich gleichzeitig tief geprägt. Sie hat mir gezeigt, wie zerbrechlich vieles ist – und wie viel stärker wir sind, wenn wir zusammen arbeiten. Im Fall vom Motorradunfall von Sailas waren mindestens 20 Leute involviert für die verschiedenen Etappen, tausende Kilometer im Land verteilt: vom lokalen Freund Hassan, der Sailas vor Ort begleitete, zur Schweizer Ärztin im Ifisi Spital, zu Kevin unserem Piloten-Freund, der mit dem Tower in Mbeya Kontakt aufnehmen konnte, bis hin zu Juma, unserem Freund und Taxifahrer in Dar es Salaam, der Sailas vom Flughafen in die internationale Klinik fuhr. Ich bin dankbar für all die Menschen in unserem Leben, die in solchen Momenten alles stehen und liegen lassen, um gemeinsam Lösungen zu finden.
Ich bin mir meiner Privilegien bewusster denn je: Dass ich in solchen kritischen Momenten Mittel und Kontakte hatte, um Hilfe zu leisten, während andere diese Möglichkeiten nicht haben. Ich habe erfahren, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen, wenn jede Entscheidung zählt. Und ich habe gesehen, wie viel Mut und Lebensfreude Menschen selbst in den schwierigsten Umständen aufbringen können.
Dieser Blogeintrag ist für mich der Versuch, all das festzuhalten. Nicht nur die Dramatik der Ereignisse, sondern auch die Dankbarkeit und Erkenntnisse, die daraus gewachsen sind. Für Freundschaft. Für Zusammenhalt. Für das Leben.
Danke, dass ihr mit mir zurückgeblickt habt auf diese verrückte Woche in Tansania.

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